Die heilige Katharina von Siena (1347 – 1380) und ihre Zeit

(2.Teil)
Der erste, der sich überzeugen ließ, dass Katharinas Wunsch, sich ganz Christus zu weihen und keine irdische Ehe einzugehen, vielleicht doch keine bloß jugendliche Torheit, sondern eine echte übernatürliche Berufung sein könnte, war ihr Vater.
Möglicherweise hatte ein Ereignis diesen Sinneswandel bei ihm begünstigt, als er sie nämlich beim Gebet überrascht und dabei - nach manchen Quellen nicht nur einmal, sondern sogar öfter - eine weiße Taube auf ihrem Haupt erblickt hatte, die bei seinem Eintritt aus dem Fenster flog. Das ganze Leben Katharinas gab zudem ein klares Zeugnis von ihrem ernsten Streben und ihre übernatürlich gefestigte Weisheit in all ihrem Tun ließ den Verdacht einer bloß jugendlichen Launenhaftigkeit kaum zu.
Im Traum erschienen ihr einmal mehrere Ordensgründer. Sie näherte sich ohne Zögern dem heiligen Dominikus. Da zeigte ihr der Heilige das Gewand der Bußschwestern seines Ordens und sagte: „Sei guten Mutes, liebe Schwester, fürchte kein Hindernis, denn ganz gewiss wirst du dieses Kleid erhalten, das du ersehnst“ (Riesch, Helene, Die hl. Katharina von Siena, Freiburg i. Br. 1921, S. 20). Nach diesem Traum trat sie vor ihre Eltern und Brüder und erklärte, sie sollten sich nicht länger um einen Bräutigam für sie bemühen. Selbst wenn sie ihre Familie deswegen aus dem Haus weisen sollte, so vertraue sie doch auf Gott, der für sie weiter sorgen werde.
Überrascht von diesem energischen Freimut ihrer Tochter brachen die Eltern in Tränen aus. Ihr Vater entschied, dass sie von jetzt an ungestört Gott dienen solle und dass auch ihre Mutter und ihre Brüder sie nicht mehr mit Heiratsplänen belästigen sollten. „Lasst sie frei ihrem Bräutigam dienen“, sagte er, „und zu Ihm unaufhörlich ihre Gebete für uns darbringen. Wir werden keine Verwandtschaft finden, die dieser ähnlich wäre, und wir brauchen nicht zu klagen, wenn wir an Stelle eines sterblichen Menschen den unsterblichen Gott und Menschen gewinnen“ (Raimund von Capua, Die Legenda Maior, Das Leben der hl. Caterina von Siena, Kleinhain 2006, S. 96).
Katharina konnte ein neues Leben übernatürlicher Hingabe beginnen. Obwohl sie aber immer weniger aß, auf einem Brett schlief, sich geißelte und einen Bußgürtel trug, warnte sie doch andere, sich zu sehr auf äußere Bußwerke zu verlegen, durch die man auch schnell seiner Gesundheit schaden kann, wie ja auch manche andere Heilige in reiferen Jahren ein schädliches Übermaß als "Torheit der Jugend" beklagt haben.
In dem im Jahre 1378 in ekstatischem Zustand diktierten Werk „Der Dialog“ sagt sie: „Die Tugend ist der Hauptzweck, Buße nur ein Mittel, … das mit Maß gebraucht werden soll. Legt man zu viel Gewicht auf Bußübungen, so schadet man der Vervollkommnung… Die Vollkommenheit besteht nicht darin, den Körper abzutöten, sondern den Eigenwillen zu verleugnen“ (Riesch, Helene, a.a.O., S.29).
Ihre Mutter Lapa machte sich trotzdem Sorgen um die Gesundheit ihrer Tochter und nahm sie mit auf eine Art „Kur“ in warmen Quellen im Badeort Bagno Vignoni (vgl. Raimund von Capua, a.a.O. S.111, Anm.2). Doch auch hier flößte das heiße Wasser Katharina übernatürliche Gedanken ein, nämlich an die Qualen des Fegfeuers und der Hölle, und führte sie so zu neuen Möglichkeiten der Abtötung.
Nach der Rückkehr führte sie ihr bisheriges Leben weiter. Sie sehnte sich immer noch nach dem Gewand des Ordens des heiligen Dominikus und bat deshalb ihre Mutter, bei den „Mantellatinnen“ von Siena um Aufnahme anzusuchen. So wurde eine Vereinigung von Frauen, meist Witwen, genannt, die über einem weißen Kleid einen langen schwarzen Mantel trugen, als Zeichen dafür, dass sie sich im sogenannten Dritten Orden, den der heilige Dominikus neben seinen Männer- und Frauenorden für Menschen in der Welt gestiftet hatte, zusammengefunden hatten und versuchten, im Geist und durch ihr Leben die Ziele des Männer- und Frauenordens zu unterstützen und so ebenfalls ein übernatürlich motiviertes Leben zu führen.
Die Schwestern lehnten die Aufnahme einer so jungen Frau wiederholt ab. Da befiel Katharina eine Art Ausschlag am ganzen Körper. Sie sagte ihrer Mutter, sie solle nochmals um Aufnahme für sie bei den Schwestern bitten, da sie fürchte, sonst nicht mehr lange zu leben. Da kamen einige der Schwestern, um sich Katharina anzusehen. Sie staunten über ihre Reife des Geistes und ihre Gottverbundenheit, und da sie durch die Krankheit gezeichnet war, meinten sie, dass auch die jugendliche Schönheit keine Gefahr mehr für sie sei. Sie entschieden, Katharina solle nach ihrer Genesung das Kleid des heiligen Dominikus empfangen. Von da an begann Katharina mit großem Vertrauen um die Wiedererlangung ihrer Gesundheit zu beten und wurde tatsächlich in wenigen Tagen von ihrer Krankheit wieder ganz frei. Sie erhielt so 1364 voll Freude in der Kirche der Predigerbrüder (Dominikaner) in Gegenwart aller Schwestern und Brüder das weiße Gewand der erstrebten Reinheit und Unschuld zusammen mit dem schwarzen Mantel der Demut.
Der Orden war vom heiligen Dominikus im 13. Jahrhundert gegründet worden (1216 von Honorius III. bestätigt), um häretische Bewegungen (Waldenser, Albigenser, Katharer), die damals vor allem in Norditalien (in der Lombardei) und in der Gegend von Toulouse in Südfrankreich auftraten, wieder zum christlichen Glauben durch Predigt zurückzuführen. Die Sektierer wandten sich damals gegen eine allzu irdische Gesinnung und Formen der Verweltlichung in der Kirche, lehnten aber zugleich die Ehe, Fleischgenuss, Arbeit, usw. gleich wie Krieg und Eid als Seiten einer bösen Schöpfung ab und hielten sich deswegen für „rein“ (das aus dem griechischen stammende Wort „Katharer“ bedeutet „die Reinen“), verfielen so aber auch einer Lehre, die nicht mehr die ursprüngliche Güte der Schöpfung anerkannte, die Welt also nicht mehr aus der Güte Gottes entstammend auffasste, sondern aus zwei Wirklichkeiten, einer Guten und einer Bösen.
Eine solche Weltsicht, die alles aus zwei gegeneinander stehenden Urkräften erklärt, die auch in heidnischen Kulturen oft anzutreffen ist und als sogenannte „Gnosis“ („Erkenntnis“) schon in den ersten Jahrhunderten das Christentum zu verfälschen drohte, nennt man „dualistisch“ (lateinisch „duo“ = „zwei“), weil nicht mehr Gott allein als der Herrscher und Schöpfer des Himmels und der Erde anerkannt wird, der das Böse wegen der Anerkennung der Freiheit Seiner Geschöpfe bis zur Erreichung einer bestimmten Grenze nur zulässt. Nach christlicher Auffassung besteht das Böse jedoch nicht aus sich, sondern ist nur eine Folge der böse gebrauchten Freiheit Seiner Geschöpfe, und auch die Schöpfung ist nicht in sich eine Mischung von Gut und Böse, sondern ursprünglich vollkommen gut und nur durch die freie Abkehr von dieser Güte durch die Geschöpfe bedroht. Das Böse hat keine Kraft aus sich, sondern ist nur die Verneinung des Guten.
Unter dem Schein von „Reinheit“ und „Heiligkeit“ wurden die Menschen also damals zu einem verderblichen Gottes- und Weltbild verführt, in dem nicht mehr die schöpferische Güte und Heiligkeit Gottes allein allmächtig über der ganzen Wirklichkeit steht, sondern praktisch zwei gleich mächtige „Gottheiten“ angenommen werden, die miteinander im Kampf liegen. Ein solcher „Gott“, der nicht der alleinige Herr ist, kann aber das Böse nicht besiegen! Christus war ihrer Ansicht nach deshalb nur wie ein Engel auf die Erde gesandt, um die Seelen zu belehren. Er konnte sie aber nicht erlösen! Das muss der Mensch nun selbst versuchen.
So kann der Mensch nur in einer Art „Selbsterlösung“ danach streben, sich „rein“ zu halten, indem er den Kontakt zu dieser bösen Welt möglichst verneint, was natürlich nie wirklich gelingen kann. Mancher dieser nach ihrer Meinung „Vollkommenen“ wählte deshalb auch den Selbstmord als Ausweg, um dieser von einem angeblich „bösen Gott“ geschaffenen Welt zu entkommen.
In der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts, als Katharina lebte, waren diese sektiererischen Gedanken und Strömungen schon weitgehend verschwunden. Der Dominikanerorden verstand sich nun mehr als ein Bußorden, der auch innerkirchlich Umkehr und damit auch stete Erneuerung des christlichen Lebens fördern wollte. Als Bettelorden, der das ursprüngliche christliche Armutsideal der sektiererischen Verzerrung entgegenstellte, stieß er auch im kirchlichen Bereich selbst eine Rückbesinnung auf das Evangelium an.
Als Mitglied des sogenannten „Dritten Ordens“, der den männlichen und den weiblichen Zweig der eigentlichen Ordensleute ergänzte, legte Katharina nicht formell die Ordensgelübde der Ehelosigkeit, des Gehorsams und der Armut ab. Aber sie lebte diese Ideale doch aus ganzem Herzen.
Drei Jahre gab sie sich nach der Einkleidung fast völligem Schweigen und großer Zurückgezogenheit hin. Christus ließ sie einst wählen, ob sie zuerst eine Krone mit Edelsteinen oder die Dornenkrone für sich wünsche. Sie wählte im Vertrauen auf Jesus Christus und im Bewusstsein Seines heilbringenden Leidens für die Seelen die Dornenkrone.
Und so kamen schwere Stunden der Bedrängnis über sie, ja sogar der Gedanke, von Jesus verlassen und für ewig verloren zu sein. Im Angesicht teuflischer Bilder und Einflüsterungen, sich doch den Genüssen der Welt hinzugeben, weil sie diese aktuellen Entbehrungen doch nie bis an ihr Lebensende durchhalten könne und ihr Leben also in dieser Form sinnlos sei, wiederholte sie immer nur: „Ich baue auf unseren Herrn Jesus Christus, nicht auf mich selbst“ (Riesch, a.a.O., S. 45).
Sie gab auch die tapfere Antwort: „Ich habe den Schmerz als Trost gewählt; süß und tröstlich wird es mir darum sein, aus Liebe zu meinem Erlöser Jesus Christus alle diese Trübsal auszuhalten, so lange es Ihm gefällt“ (Riesch, a.a.O., S. 46). Diese heroischen Worte ließen die teuflischen Gedanken plötzlich verschwinden und in glänzendem Licht erschien ihr Jesus am Kreuz, der sie stärkte und sprach: „Meine Tochter, siehst du, wie viel ich für dich gelitten habe?“ (ebd.).
Da fragte Katharina: „Wo warst Du, Herr, als ich von so entsetzlichen Gedanken gequält wurde?“ Und Jesus antwortete: „Während des Kampfes war ich in Deinem Herzen, ich stärkte es gegen den Feind, und deine Verdienste nahmen zu, je mehr ich deine Geduld erprobte“ (Riesch, a.a.O., S. 46f.). Jesus gab ihr zu verstehen, dass Er nicht Seine Diener leiden sehen wolle, doch guter Wille und Liebe könnten nur in geduldigem Leiden offenbar und stark werden.
Hier zeigt sich, wie in der Liebe Christi getragenes Leid für den Menschen zum Segen werden kann, wie sich in der menschlichen Schwäche die Kraft Gottes offenbart. Heidnische Religionen sowie atheistische Philosophen oder Ideologen können vor dem Leid und der Schwachheit des Menschen entweder nur die Augen schließen oder von der Notwendigkeit des „Übermenschen“ fabulieren, der dem enthoben sein sollte. Doch auch „übermenschliche“ Bemühung allein kann die Sinnlosigkeit des Leids an sich nicht verwandeln. Leid und Schwäche gehört seit dem Sündenfall zur Wirklichkeit menschlichen Daseins, und nicht diejenigen, die sich selbst zu „Übermenschen“ machen wollen, weisen einen gangbaren Weg aus der menschlichen Not, sondern nur diejenigen, die sich ihrer Schwäche bewusst bleiben, sie aber in die Hand des allmächtigen Gottes legen, der allein sie durch Seine Gnade zum Tor ins wahre Leben werden lassen kann.
„Eine Seele, die Gott vollkommen liebt“, sagt sie einmal zu ihrem Beichtvater, „vergisst sich selbst … und alle andere Kreaturen. Sie erkennt ihre Nichtigkeit, sie erkennt, dass Gott der Ursprung ihres Wesens ist, die einzige Quelle ihres Glücks“ (Riesch, a.a.O., S. 51).
Als Folge der erduldeten und bestandenen Prüfungen zeigte sich ihr Christus immer häufiger, ja er schritt sogar an ihrer Seite, wenn sie auf- und abgehend das kirchliche Stundengebet verrichtete. Schließlich sagte Er ihr, die nach einer immer tieferen Verbindung mit Ihm strebte: „Ich werde mich dir im Glauben verloben“ (Riesch, a.a.O., S. 51). Und wirklich nahm Maria einmal in der Karnevalszeit, als Katharina sich besonders dem Gebet und dem Verzicht hingab, ihre Hand, damit ihr Jesus einen Diamantring an den Finger stecken konnte, indem Er zu ihr sagte: „Siehe, ich, dein Schöpfer und Erlöser, verlobe mich mit dir im Glauben. Du wirst den Glauben unversehrt bewahren bis zu dem Tag, wo du mit mir im Himmel auf ewig vereint wirst. Mut denn, meine Tochter, vollbringe nunmehr tapfer alles, was meine Vorsehung dir aufträgt. Weil du dich gewappnet hast mit dem Schilde des Glaubens, wirst du siegen über alle deine Gegner“ (Riesch, a,a,O., S.52).
Christus rief sie nun aus der selbstgewählten Zurückgezogenheit heraus und sprach zu ihr, die auch schon in diesen Jahren der Einsamkeit bei allen Gelegenheiten immer freigebig die Armen unterstützt hatte: "Ich will dich keineswegs trennen von mir, ich will mich nur der Nächstenliebe bedienen, um dich noch enger mit mir zu vereinen. Du weißt, mein Gebot der Liebe ist ein doppeltes: Liebe zu mir und Liebe zum Nebenmenschen“ (Riesch, a.a.O., S. 53).

(Fortsetzung folgt)

Thomas Ehrenberger

 

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